Gemeindeentwicklung

Segen ist wie ein Glückskeks mit Gott

„Weil du in meinen Augen teuer und wertvoll bist“, steht auf der Karte in Steffis Hand. In der anderen hält die junge Frau einen Kaffeebecher. Es ist früher Nachmittag, Steffi ist an der Vespa-Ape stehengeblieben, weil sie sich an dem knautschigen Fahrzeug mit seinen drei Rädern einen Cappuccino kaufen wollte. Diesen bekam sie allerdings umsonst von „Kirche Piazza“ zusammen mit einem Segenspruch aus Jesaja. Dazu musste sie am Glücksrad drehen. „Eine schöne Aktion und eine schöne Aussage“, urteilt Steffi. Sich wertvolll zu fühlen, sei nie verkehrt.

Der Helene-Weigel-Platz gehört zur Evangelischen Kirchengemeinde Marzahn-Dorf. Etwa 2.300 Mitglieder hat sie. Viele der älteren Marzahner sind vor über 40 Jahren als junge Familien in den Bezirk gezogen, damals war er Europas größtes Neubaugebiet in Plattenbauweise. Mittlerweile sind die Menschen über 70. Ihre Generation macht die Hälfte der Gemeindeglieder aus. Die Jüngeren, die nach Marzahn ziehen, weil Wohnraum noch bezahlbar ist und die meisten der Platten im Zuge des umfangreichen Förderprogramms „Stadtumbau Ost“ saniert wurden, sind entweder gar nicht kirchlich sozialisiert, oder sie gehören der Kirche an und gehen nicht hin. Bei Andreas und seiner Freundin trifft beides zu. Der Industriemechaniker hat heute seinen freien Tag und schlendert, sein Fahrrad schiebend, über den Platz. Als er die Ape sieht, hat er denselben Gedanken wir kurz zuvor Steffi: „Kaffee? Geht!“ Überrascht nimmt der 32-Jährige das Geschenk an und nestelt den Geldbeutel zurück in den Rucksack. Andreas‘ Blick fällt auf die zum Blättern bereitliegende Ausgabe des Gemeindebriefs. „Ach ja, die Kirche im Dorf drüben“ sagt er und grinst. Marzahns Dorfkirche ist eine halbe Stunde zu Fuß entfernt, im historischen Ortskern des Bezirks.

„Meine Freundin ist in der Kirche. Aber Hingehen – nö. Außer zu Weihnachten mit den Eltern“, erzählt Andreas, während er an seinem Becher nippt. Er könne sich sogar vorstellen, kirchlich zu heiraten, obwohl er selber nicht in der Kirche sei. „Geht das überhaupt?“ Andreas erfährt: Ja, das geht.

Gespräche über Glaube und Kirchenzugehörigkeit sind kein Standard, in Berlin nicht und auch nicht an der Ape. Das Angebot des Teams ist freiwillig. „Wer nur den Kaffee möchte, bekommt ihn. Die Menschen bringen das mit, was sie bewegt“, sagt Michaela Fröhling, die „Kirche Piazza“ 2013 erdacht hat. Passenderweise schrieb sie die Projektskizze in einem Café am Berliner Alexanderplatz. „Der ist für mich genauso Piazza. Ich hätte mir gut vorstellen können, mir der Ape dort hinzugehen“, sagt die Theologin. Das Bezirksamt Berlin-Mitte sah das anders und erteilte keine Genehmigung für den Einsatz. In Marzahn war die Behörde flexibler.

Umgesetzt wurde das Projekt erstmals im Oktober 2020 in Berlin-Tiergarten. Der Name leitet sich ab vom italienischen Wort für Platz, la Piazza, der für beides steht, Begegnungsraum und Lebensgefühl. Der Zusatz Kirche macht daraus die Anwendung des EKBO-Impulspapiers „Kirche mit Mission“. Es ist ein Bekenntnis zur Stadt und ihren Menschen, abstrakt formuliert: zur kontextuellen Theologie. „Jeder hat Anspruch auf Hoffnung“, übersetzt Marzahns Pfarrer Joram Luttenberger. Es könnte auch ein Zitat von der Segensleine sein, die zwischen der Ape und einer Straßenlaterne gespannt ist. Im Gegensatz zu Steffi mag Andreas das zugehörige Glücksrad nicht drehen. Aber er steckt sich einen Gemeindebrief ein.

Mina möchte drehen. Sie ist mit ihrer Mutter auf dem Nachhauseweg vom Hort. Der Wechselunterricht in Corona-Zeiten ist kräftezehrend. Ein Kaffee auf den Weg tut der Mama gut, derweil die Tochter dem Glücksrad einen Schubs gibt. „Die Sprüche sind ja wie Glückskekse. Nur mit Gott.“, findet das Mädchen und steckt sein Kärtchen in die Schultasche.

Während sich Rentnerin Helga auch lieber dem Kaffee widmet und dessen Geschmack lobt, dreht ihr Sohn Uwe das Glücksrad. Beide kommen vom Arzt, der Sohn hat die 86-jährige Mutter dorthin begleitet. Der zugehörige Spruch lässt ihn die Stirn runzeln. Er zeigt das Kärtchen seiner Mutter. Die liest – und lächelt. „Na, dit passt ja.“ Uwe legt den Segen vorsichtig in seiner Brieftasche ab.